Herr Haj, wir freuen uns, dass Sie Zeit für das Gespräch gefunden haben. Können Sie unseren Lesern zum Einstieg kurz erzählen, wie Sie zum Thema Mode gekommen sind und wie Ihre Schneiderei entstanden ist?
Gern! Der Beruf liegt bei uns in der Familie. Während meiner Kindheit habe ich viel Zeit in der Schneiderei meiner Eltern verbracht und das Handwerk „von der Pike auf“ gelernt. Stoffe, Farben und die Fähigkeit, Menschen gut anzuziehen, haben mich schon immer fasziniert. Mein Traum war es deshalb schon früh, Modedesigner zu werden, doch leider hat es sich einfach nicht ergeben.
Als ich dann später eine Wohnung in der Westfälischen Straße in Berlin Halensee bezog und die Gewerbetreibenden dieser wunderschönen Straße beobachtete, dachte ich mir, eine Schneiderei würde sehr gut in die Gegend passen. Gerade zu dieser Zeit wurde im selben Haus ein Ladengeschäft frei. Da mein Vermieter genug Vertrauen in mich hatte, entstand 2008 die Schneiderei Haj in der Westfälischen Str. 50 A.
Wie viele Mitarbeiter haben Sie heute?
Angefangen habe ich allein, aber schon nach 2 Monaten brauchte ich Unterstützung. Inzwischen habe ich 4 Angestellte. Darüber hinaus beschäftigte ich in all den Jahren auch viele Auszubildende.
Worauf legen Sie bei der Arbeit besonders viel Wert?
Qualität geht vor Quantität. Deshalb ist es mir wichtig, mir Zeit für das persönliche Gespräch mit dem Kunden zu nehmen. So erkenne ich, welche Wünsche er hat und wie ich ihn am besten beraten kann. Ein guter Ratschlag deckt sich dabei nicht immer mit der Idee, mit der er in meinen Laden gekommen ist. Hier sind Feinfühligkeit und Kompetenz gefragt.
Wer gehört zu Ihren Kunden?
Es gibt keinen bestimmten Kundenkreis. Es kommt, wer auf sich Acht gibt, wer sein Lieblingsstück erhalten möchte, wer nachhaltig denkt, Gutes gerne länger tragen oder „aus-der-Mode-Gekommenes“ zu neuem Leben erwecken möchte. Wer von der Stange nichts findet und maßgeschneiderte Teile wertschätzt, ist bei uns ebenfalls an der richtigen Adresse.
Im Interview: Schneider Bahram Haj von der Schneiderei Haj, Bildquelle: Schneiderei Haj
Welche Menschen entscheiden sich für maßangefertigte Mode?
Maßanfertigungen werden von Kunden mit speziellen Wünschen und Bedürfnissen nachgefragt. Auch zu besonderen Anlässen denken erfahrungsgemäß viele Menschen über ein maßgeschneidertes Stück nach. Damit meine ich nicht nur die „Reichen und Schönen“ dieser Gesellschaft. Manchmal wünscht sich auch einfach jemand ein Design aus einer vergangenen Kollektion oder hätte gern ein besonderes Kleidungsstück, das er in einem anderen Land gesehen hat. Die Ansprüche haben sich dahingehend in den letzten zehn Jahren auch enorm gewandelt. Die Menschen geben wieder mehr auf sich Acht und das ist auch gut so.
Was spricht für maßangefertigte Kleidung?
Maßgefertigte Kleidung ist im besten Fall eine zweite Haut. Jeder von uns hat einen individuellen Körper mit einem individuellen Empfinden. Wenn man sich wohlfühlt in seiner Haut, strahlt man das auch aus.
Welche Reparaturen und Änderungen führen Sie am häufigsten durch?
Wir kürzen Hosen, ändern Herrenanzüge (z. B. bei Gewichtsabnahme oder –zunahme), passen Sakko-Ärmel an, kürzen Abendkleider, reparieren Reißverschlüsse, stopfen aber auch Löcher in Wollbekleidung und ändern Vorhänge. Da ist in unserem Arbeitsalltag immer für Abwechslung gesorgt.
Sie bieten Typberatungen und Einkaufsbegleitungen an? Wie läuft das genau ab?
Wenn jemand beim Modekauf unsicher ist und vor Ort gerne fachmännisch beraten werden möchte, erhält er bei uns die Unterstützung, die er braucht. Nach einem persönlichen Erstgespräch und einer Terminvereinbarung in der Schneiderei, gehen wir zusammen in seine bevorzugten Konfektionsgeschäfte und empfehlen ihm Stücke, die am besten zu seinen ganz individuellen körperlichen Besonderheiten passen.
Worüber sollte sich jemand im Vorfeld Gedanken machen, wenn er sich einen Maßanzug anfertigen lassen will?
Wichtig ist zunächst einmal der Grund, aus dem man sich für eine Maßanfertigung entschieden hat. Geht es um einen Anzug für einen festlichen Anlass, wählt man andere Schnitte als beispielsweise bei einem Casual-Business-Dress. Die zweite wichtige Frage betrifft die Stoffe. Hier spielen ebenfalls der Anlass, aber auch persönliche Präferenzen eine Rolle. Zu guter Letzt ist es vorteilhaft, wenn der Kunde bereits eine Vorstellung davon hat, wie der Anzug später insgesamt aussehen soll. Gut ist es zum Beispiel, wenn er bereits Fotos von Schnittformen mitbringt, die er bevorzugt.
Wie hat sich Ihrer Einschätzung nach die Corona-Krise auf die Textilindustrie ausgewirkt?
Insgesamt ist zu beobachten, dass sich die gesamte Dynamik verlangsamt hat. Es finden kaum Fashion-Shows oder Bälle statt. Überall wird Personal in Kurzarbeit geschickt oder sogar gekündigt. Darunter leiden die Qualität und auch die globalen Handelsketten. Home-Office verlangt nicht nach Businessmode und feierliche Anlässe finden auch nicht mehr statt. Das spüren wir in der Schneiderei schon deutlich.
Wie haben Sie Ihre Arbeitsabläufe im Zuge der Corona-Pandemie umgestellt?
Beim ersten Lockdown konnten wir uns zunächst mit dem Nähen von Mund-Nasen-Masken über Wasser halten. Jetzt gibt es an jeder Ecke Masken in allen Formen und Farben.
Der zweite Lockdown trifft uns wirtschaftlich stärker als im Frühjahr. Wir dürfen zwar unser Geschäft öffnen, doch die Kaufkraft liegt deutlich unter dem Vorjahresvergleich. Denn es gibt einfach zurzeit keinen Grund, ein Ballkleid zu ändern oder einen Anzug anzupassen. Die Bedürfnisse sind gerade verlagert und das spüren wir hier deutlich. Dennoch hoffen wir aber natürlich, dass sich die Lage bald wieder normalisiert.
Dann wünschen wir für die Zukunft alles Gute und danken Ihnen für das informative Gespräch!