Digitale Medizin in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme
Digitale Technologien wie die Video-Sprechstunde, elektronische Patientenakte (EPA) und die Messung der Gesundheitsdaten via App sind dabei, das deutsche Gesundheitswesen zu verändern. Sie tragen dazu bei, den in der Gesundheitswirtschaft vorhandenen Fachkräftemangel zu verringern. Obwohl laut einer PwC-Studie 61 % der Deutschen das deutsche Gesundheitswesen als digital gut aufgestellt ansehen und 64 % der Ärzte der KI ein hohes Innovationspotenzial beimessen, ist die Digitalisierung noch nicht flächendeckend umgesetzt. Es existieren vereinzelte Leuchtturmprojekte, die positive Ergebnisse für alle am Gesundheitsprozess Beteiligten erbringen. Den Verantwortlichen ist bewusst, dass digitale Technologien die medizinische Behandlungsqualität erhöhen und die Gesundheitskosten für die Allgemeinheit verringern. Von dieser qualitativ optimierten Versorgung würden natürlich auch Patienten profitieren, die in ländlichen Regionen leben und die derzeit unterversorgt sind.
Die Einführung der elektronischen Patientenakte Anfang 2021 wird den digitalen Vorsprung anderer europäischer Länder verringern. Außerdem soll die E-Health-Initiative des Bundesgesundheitsministeriums zum Ausbau der Telematik-Infrastruktur beitragen. Denn die Verbesserung der medizinischen Versorgung ist in allen Bereichen dringend erforderlich, wie eine PwC-Studie feststellt: Bis 2030 werden in Deutschland etwa 400.000 Vollzeitkräfte im Gesundheitswesen fehlen. Schon heute macht sich dieser Fachkräftemangel mit zu langen Wartezeiten auf Termine, zu knappen Behandlungszeiten und zu wenig Krankenhauspersonal bemerkbar. Dieser ungünstigen Situation kann die Einführung von KI und robotergestützten Assistenzsystemen abhelfen. Sie entlasten Mediziner und Pflegepersonal bei der Diagnostik, praktischen Tätigkeiten, medizinischer Dokumentation und administrativen Aufgaben.
KI-basierte selbstlernende Computersysteme verknüpfen die Daten aus bildgebenden Verfahren, Laboren, klinischen Informationssystemen und Medikationen miteinander und interpretieren sie. Bereits heute zeigt sich, dass die KI die Qualität bildgebender Technologien deutlich verbessert. Zu diesem Ergebnis kommen beispielsweise Studien zur Untersuchung von Lungenkrankheiten. Robotersysteme assistieren heute bei immer mehr Operationen. Darüber hinaus testet man Roboter, die in der Pflege und Rehabilitation zum Einsatz kommen. Auch die Mikrorobotik soll zukünftig noch ausgebaut werden. Das neue E-Health-Gesetz enthält spezielle Regelungen für telemedizinische Leistungen, von denen insbesondere ältere Patienten und solche mit Mobilitätseinschränkungen profitieren. Zu diesen zählt beispielsweise die Online-Sprechstunde.
Robotergestützte Assistenzsysteme entlasten Ärzte und Pflegepersonal, Bildquelle: Selbststaendigkeit.de
Smart Hospitals
Einer Terra Consulting Partners (TCP) Studie zufolge hinkt die Digitalisierung der deutschen Gesundheitswirtschaft anderen Branchen um 10 bis 15 Jahre hinterher. Daher wird die flächendeckende Umgestaltung von Krankenhäusern zu Smart Hospitals weitreichende Folgen für Verwaltungsprozesse und das ärztliche Berufsbild haben. Sie soll gravierende Unzulänglichkeiten wie
- eine zu geringe Beachtung des Patienten
- Defizite in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient
- organisatorische Probleme (Terminvergabe)
- zu hoher Zeitaufwand bei der medizinischen Dokumentation
- unzureichender Austausch zwischen den Fachdisziplinen
beseitigen. Eine 2017 vom Marburger Bund durchgeführte Umfrage ergab, dass 26 % der Mediziner mehr als drei Stunden täglich mit der Erfassung der Patientendaten beschäftigt sind. 29 % benötigen dafür zwei bis drei Stunden pro Tag, 33 % im Durchschnitt zwei Stunden. Die flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte entlastet die Ärzte von übermäßiger Bürokratie. Schlankere Prozesse führen zur längst überfälligen Verbesserung der medizinischen Versorgungsqualität. Auch die Berufsausbildung der Mediziner und ihre tägliche Arbeit wird von der bisherigen abweichen.
Digitalisierung und Medizinstudium
Experten gehen davon aus, dass sich die bisherige Medizinerausbildung mit ihren MC-Prüfungen und ihrer Faktenzentrierung zugunsten einer wissenschaftlich ausgerichteten und methodenzentrierten Ausbildung verändert. Möglich wird dies durch den Masterplan Medizinstudium 2020. Mit diesem neu strukturierten und praxisnahen Studium verändern sich die Anforderungen an Studenten und Lehrpersonal. Allerdings enthalten weder der Masterplan Medizinstudium 2020 noch der Nationale kompetenzorientierte Lernzielkatalog Medizin Regelungen zur digitalen Transformation. Es fehlen flächendeckende digitale Ausbildungsinhalte und Weiterbildungen in diesem Bereich.
Manche Universitäten gleichen dieses Manko aus. An der Universität Mainz gibt es beispielsweise ein Pilotprojekt mit fünf Lernmodulen und Diskussionsrunden. In diesem erfahren die Studenten, wie
- die Digitalisierung die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessert
- sie mit Medizin-App und Smart Devices umgehen müssen
- die computerassistierte Chirurgie funktioniert
- sie VR und AR in der medizinischen Praxis nutzen können
- die Telemedizin angewendet wird
- Big Data die Patientenversorgung verbessert
An der Universität Göttingen trainieren die Studenten in der virtuellen Notaufnahme softwaregestützt, wie sie mit medizinischen Notfällen umgehen müssen. Die Universität Duisburg-Essen bietet ein Wahlfach zum Thema Echokardiographie Basic Augmented Reality an. In diesem erwerben sie Kenntnisse im Bereich Diagnose von Herzerkrankungen mithilfe des Echo-Simulatormodells. Obwohl es an immer mehr Universitäten digitale Wahlfächer gibt, sind diese meist nicht in das Regelstudium integriert. Geplant sind zusätzliche Studiengänge nach dem Vorbild des EU-Studienmodells EDU für Humanmedizin. EDU ist die Abkürzung für European Digital University. Dieses Studium erfolgt in Zusammenarbeit mit der Helios Kliniken GmbH.
Wie die Digitalisierung den Arztberuf verändert
Folge der Digitalisierung in der Medizin ist, dass es eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Fachärzten geben wird. Dies wäre durch Onlinefallbesprechungen möglich. Diagnostische Disziplinen können infolge des gemeinsamen Ansatzes zusammengefasst werden. Ärzte werden immer mehr zum Vermittler zwischen digitaler Technologie und Patienten, weil sie diesen die Ergebnisse der Datenanalyse leicht verständlich erklären müssen. Auch das Entstehen neuer Assistenzberufe wie des Physician Assistant ist denkbar. Natürlich verbessert sich mit Hilfe von KI und Machine Learning auch die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Weil sich viele Patienten schon vorab über mögliche Erkrankungen informieren, erwarten sie vom behandelnden Arzt mehr Beratung als medizinische Aufklärung. Dass der Einblick in medizinische Befunde das Vertrauen zwischen Patient und Arzt stärkt, zeigen Studien, die an der Universität Witten/Herdecke und der Harvard University (Boston) durchgeführt wurden.
Digitale Technologien beeinflussen darüber hinaus die Zusammenarbeit zwischen Arzt und medizinischen Helfern wie Zahntechnikern, wie das Beispiel der digitalen Volumentomografie und Werkstückbearbeitung in der Zahnmedizin zeigt. Studien belegen, dass Mediziner den neuen Möglichkeiten grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Sie befürworten, dass sie den bürokratischen Aufwand reduzieren und sie so mehr Zeit für ihre Patienten haben. Allerdings haben manche von ihnen Bedenken, was die IT-Sicherheit und die strengen Anforderungen an den Datenschutz angeht. Dies ist auch der Grund, weshalb die digitalen Lösungen noch nicht überall im Einsatz sind.